Der hl. Dominikus und der Missbrauchsskandal

Am Fest des hl. Dominikus 2021 predigte Provinzial P. Thomas Gabriel Brogl OP in St. Andres Düsseldorf über den Impuls, den Dominikus für die Situation der Kirche nach dem Missbrauchsskandal geben kann. P. Thomas vergleicht die damalige Glaubwürdigkeitskrise mit den heutigen Herausforderungen der Kirche und zeigt das Handeln des hl. Dominikus als Weg auf.

Missbrauch in der katholischen Kirche ist keine Anhäufung von Einzeltaten von schwarzen Schafen, sondern Missbrauch hat systemische Gründe. Diese Erkenntnis war ein wichtiger Schritt in der Aufarbeitung des Missbrauchsskandals. Bei dieser Aufarbeitung stehen wir trotzdem immer noch am Anfang.

Inzwischen hat sich die Wissenschaft auf die Suche in der Theologie nach solchen systemischen Ursachen gemacht. Der Dogmatiker Oliver Wintzek hat dies für den Offenbarungsbegriff vor kurzem durchgekliniert (in: Jochen Sautermeister / Andreas Odenthal (Hg.): Ohnmacht. Macht. Missbrauch. Theologsiche Analysen eines systematischen Problems. Freiburg i.B. 2021). Im Offenbarungsbegriff habe die Kirche, vor allem im 19. Jahrhundert, ein hermetisches System aufgebaut: Sie habe sich stilisiert als die exklusiv autorisierte Hüterin des Traditionsgutes – unanfechtbar und unhinterfragbar von menschlichen Instanzen und immun gegen jeglichen Vernunfteinspruch. Da sie selbst Teil des Offenbarungsgutes ist, werde sie letztlich unangreifbar. Der (spätere Kardinal) Gerhard Müller formuliert dementsprechend in seiner bekannten Dogmatik: „Der Inhalt der Überlieferung ist identisch mit ihren Trägern und ihren Subjekten“. Hier befinden wir uns, wie Oliver Wintzek feststellt, in zirkulären Argumentationen, wodurch die Kirche – und mit ihr ihre Interpretationen der hl. Schrift – sich selber der Kritik enthebe.

Das nun setze sich – so andere Theologen im Anschluß an diese Gedanken – bis nach unten fort: die lehrende Kirche, die sich quasi göttliche Autorität zuspricht, regiere dann mit ihrer „Pastoralmacht“ die Seelen. „Pastoralmacht“ – ein Begriff des Philosophen Michel Foucault – meint, dass die Kirche bis ins Detail die Aktionen des einzelnen Gläubigen lenken will, um ihn sicher zum Heil zu führen. Die Konsequenz: Kirche will Kontrolle ausüben und behalten, tut sich schwer, lange Traditionen zu hinterfragen und sich überhaupt vorstellen zu können, dass Dinge anders sein könnte als sie das bisher gesehen und geregelt hat.

Ein Organisationsentwickler hat dementsprechend die Herausforderung für einen Neuanfang und eine Reform der Kirche heute so formuliert: „Wie ist Verlernen möglich?“

Das Gegenmodell – der hl. Dominikus

„Verlernen“ war ein zentraler Impuls im Leben des hl. Dominikus. Auch damals ist die Kirche in einer schwerwiegenden Krise, vor allem einer der Glaubwürdigkeit. In diese Lücke und in weiten Teilen unbesetzte spirituelle und intellektuelle Gebiet des Glaubens drängen esoterische, gnostisch-dualistische Gruppen wie die Katharer.

Und was macht die Kirche? Sie reagiert wie so oft: mit Selbstverteidigung und mit dem Versuch, mit Macht und Gewalt (Stichwort: Kreuzzüge) die Kontrolle zurückzugewinnen. Selbst denen, die mehr verstanden haben: predigende Zisterzienser, fällt es buchstäblich schwer, vom hohen Ross zu steigen.

Dominikus steigt nicht nur vom Ross – das bleibt als Statussymbol auch im neu gegründeten Orden tabu –, er ist buchstäblich barfuß unterwegs. Die Heiligsprechungsakten weisen auf dieses kleine, scheinbar unbedeutende Detail extra hin, wenn sie berichten: „Sobald Dominikus außerhalb der Stadt war, lief er barfuß und seine Schuhe trug er selbst“. Dass dieses, für Kanoniker ungewöhnliche und eigentlich unschickliche Verhalten berichtet wird, zeigt etwas Tieferes. Nicht nur, dass Dominikus den Lebensstil der Apostel nachahmt (man sieht die Apostel in den Darstellungen der Kunst immer barfuß), sondern etwas, was man fast symbolisch verstehen könnte: Wer barfuß unterwegs ist, spürt seine Umgebung; er spürt jeden Stein. Die reiche Kirche war – in diesem Bild gesprochen – mit Schuhen unterwegs: abgesichert, gut gepolstert und im Besitz der Wahrheit interessierte wenig, was um sie herum war. Es galt nur durchzusetzen, was bereits klar war.

Dominikus zeigt: Der Glaube ist barfüßig. Wir sehen dies tief in der hl. Schrift verwurzelt: wo Mose vor dem Dornbusch die Schuhe auszieht und am Beispiel von Jesus und den Aposteln. Diese kleine Geste zeigt, was Glaube heißt: Sich Gott und sich den Menschen auszusetzen. Beides gehört untrennbar zusammen: Wer vor Menschen eine Mauer baut, baut auch vor Gott Mauern. Dominikus folgt der Wahrheit Christi und gründet seinen Orden auf die „Veritas“ hin, aber er hat nicht die Wahrheit „mit Löffeln gefressen“, sondern er lernt, die Wahrheit des Evangeliums vor dem Kontext seiner Umgebung neu zu formulieren und zu begründen. Viele Jahre zieht er umher, redet mit den Leuten, setzt sich ihren Argumenten aus. Oft genug wird er auch beschimpft und befindet sich in Gefahr. Doch er begegnet ihnen nicht mit Absicherung oder mit der Rüstung der Kreuzzügler, sondern als verletzbarer Mensch und Glaubender. Diese Jahre, fast zehn Jahre bis zur Gründung des Ordens, sind sozusagen die verborgenen Jahre des hl. Dominikus: verborgene und nach außen hin auch scheinbar „erfolglose“ Jahre. Es sind auch Jahre des „Verlernens“. Meister Eckhart würde es „Ent-bilden“ nennen: das Loslassen von Bildern, Vorstellungen und Fixierungen, um das Evangelium im Konkreten und im Offenen neu zu erlernen und zu begreifen.

Dabei prägen und tragen Dominikus drei Haltungen:

  1. Die Ehrfurcht vor jedem Einzelnen: vor seinem Weg, vor seinem Werden, auch in seinem Irrtum und seiner Schuld. Bei allem Einsatz für die Wahrheit und aller Klarheit in der Sache beschämt er niemanden und es heißt, dass niemand „ungetröstet“ von ihm weggegangen sei.
  2. Sein Mitleid: Dominikus bleibt nicht am Äußeren hängen, sondern sieht das tiefere Leid wie auch die tiefere Sehnsucht, die die Menschen den Katharern in die Hände geführt hat.
  3. Das Gebet, das dies alles mit Gott verbindet. Dominikus schreit, weint, klagt nachts über das Leid der Menschen und bringt ihre ganze Ausgesetztheit und ihre Abgründe vor Gott.

In all dem ist kein „Wille zur Macht“, sondern Demut und Ehrfurcht. Ehrfurcht als Schritt zurück, um Raum zu geben: Gott, aber auch den Menschen. Es ist zugleich ein Öffnen und Sich-Aussetzen – das Gegenteil von Hermetik: nicht die Schriften der Anderen zu verbrennen, sondern in der Feuerprobe von Fanjeux auch die eigenen ins Feuer der Kritik Gottes zu geben.

Bei all dem zeigt sich: Unser Glaube ist gärend, will vor einer neuen Situation, in der Dominikus sich findet, neu errungen und durchbuchstabiert werden – sozusagen: neu erlernt werden. Glaube ist kein perfekt abgeschlossenes System, sondern will sich immer wieder am Du neu formulieren und seine Wahrheit erweisen.

Glaube hat dabei den Mut und die Freiheit, sich auszusetzen. Der Franziskaner Richard Rohr hat einmal formuliert: „Das Gegenteil von Glauben ist nicht Zweifeln; das Gegenteil von Glauben ist Kontrolle“: Kontrolle, die alles im Griff behalten will, alles einordnet und letztlich nichts an sich heranlässt – womit wir wieder beim Beginn wären. Was sich da als Glaube und Glaubenssicherheit getarnt hat, war letztlich eine Form von Kontrolle, ja man möchte fast sagen: Unglauben – mit fatalen Folgen.

Aus der Tiefe des Gebets

Echter Glaube geht barfuß. Er ist verwundbar, lässt sich berühren, hinterfragen und öffnen. Nur dann bleibt er in Kontakt mit dem Boden, der Wirklichkeit und mit dem, wo es weh tut. Das aber ist der Ort, an dem der Gekreuzigte auf uns wartet, um uns „in die ganze Wahrheit einzuführen“ (Joh 16,13).

Deshalb ist die Mitte des Glaubens auch das Gebet: Das Gebet der Nacht ließ Dominikus frei und berührbar bleiben – und das nicht nur „psychohygienisch“: Sein Herz und sein Geist blieben frei! Gebet gibt Freiheit. Nicht umsonst hat Romano Guardini in seinem immer noch lesenswerten Buch über „Die Macht“ die kontemplative Haltung als etwas beschrieben, was der Macht, zu vereinnahmen und besitzen, dem „Zweckwillen“, Besitz- und Genuss- Impulsen Einhalt gebiete. Kontemplation und Gebet sind der Kontakt mit der Mitte des Lebens – mit der Wahrheit, die meine Wahrnehmung von Wahrheit immer wieder korrigiert. Gebet ist Unterbrechung von sich selbst, Krisis, wo sich der Mensch auch der Kritik stellt, indem er dem wahrhaftigen Gott begegnet. Echte Begegnung mit Gott wie auch mit dem Menschen (die letztlich auch Gottesbegegnung ist, so sie „nackt“ geschieht) bricht mein System auf: die Geschlossenheit, die Gewissheiten und Unversöhntheiten.

Das II. Vatikanische Konzil hat „Offenbarung“ folgerichtig nicht mehr verstanden als Kundgabe von Satzwahrheiten, die man einfach „haben“ kann, sondern als Beziehungsgeschehen aus einem bestimmten Kontext heraus. Was das aber wirklich heißt und was es für Konsequenzen hat, haben wir wohl noch lange nicht voll verstanden. Das Beispiel und die Haltung des Dominikus können uns aber zeigen, wie wir hier vorankommen. Mit einem Glauben, der barfuß unterwegs ist.

P. Thomas Gabriel Brogl ist Provinzial der Dominikaner in Süddeutschland und Österreich und Pfarrer an St. Martin in Freiburg. Sein besonderes Augenmerk gilt der Spiritualität in Wissenschaft und Praxis.