Jesus,

du Antlitz der göttlichen Barmherzigkeit (Leon-Dufour),

vom Vater in die Welt gesandt als unser Bruder;

du „Fleisch gewordenes Wort“ Gottes,

vom Vater in die Welt gesprochen;

du „Fleisch gewordene“ göttliche Barmherzigkeit,

die Menschenantlitz trägt,

in dem ich es lesen und verstehen kann,

dieses göttlich große Wort: Barmherzigkeit!

 

Jesus,

du „Mensch gewordene“ Barmherzigkeit Gottes,

wie dich der Vater sandte,

so sandtest du Dominikus in seine Zeit;

du sendest auch mich in meine Zeit,

du lädst mich ein, zu werden,

was ich aus göttlicher Barmherzigkeit bin,

schon immer bin in Gottes Wesen:

ein Wort, in dem er sich selber aussprechen will in dieser Welt;

das „Fleisch werden“ will in mir;

ein göttlich Wort, das sich aussagen will

durch mein Wesen, mein ganzes Sein,

ein Wort seiner göttlichen Barmherzigkeit.

 

Barmherzigkeit ist immer größer

– du, Jesus, hast sie uns vorgelebt –

sie ist größer als der Zorn und die Vergeltung,

größer als die Rache und der Hass;

größer als Gesetz und Ordnung,

als jede Regel und als Tradition,

wenn sie nicht Heil und Leben sind.

Sie ist größer als jedes Opfer, das nicht Liebe ist,

größer gar als die Gerechtigkeit und die erfüllte Pflicht.

„Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht“ (Jak 2,12f).

 

Barmherzigkeit ist immer weiter,

weiter als das in sich gefangene Ich,

das blind und taub ist für fremde Not und fremdes Leid;

weiter als das von Stolz und Kälte eingeschnürte Herz,

das den Fremden ausgrenzt,

den Armen draußen lässt vor seiner Tür

in Schmutz und Wunden

und den Schuldigen verurteilt und bestraft,

glaubend, dies sei gerecht.

 

Barmherzigkeit – sie wurzelt tief, ganz tief,

tiefer als jenes „Gut-Sein“,

das rechnet auf Erwiderung und Dank,

das manchmal gar in Abhängigkeit und Unfreiheit lockt.

Barmherzigkeit – sie wurzelt tief, ganz tief,

tiefer als jenes Helfen aus einem Herzen,

das sich vorher wappnet

mit dem Schild der Strenge und der Härte,

um selber nicht verletzt zu werden.

 

Barmherzigkeit – sie wurzelt dort,

wo die eigene Verwundbarkeit, Verletzlichkeit sich finden

und tiefstes Fühlen, das Mit-Gefühl will werden,

bereit auch mit zu leiden.

 

Barmherzigkeit – immer größer, immer weiter,

tief, viel tiefer wurzelnd,

weil nur aus Gott entspringend!

„Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist!“

sagst du zu den Deinen, Jesus,

du, das Antlitz der göttlichen Barmherzigkeit.

Du, das Fleisch gewordene Wort

der göttlichen Barmherzigkeit.

 

Wie kann auch ich,

gesandt zu predigen im Orden des Dominikus,

dies göttlich-große Wort in mir zum Klingen bringen?

 

Begleitbrief zur Meditation: „Ein Wort der Barmherzigkeit soll ich sein“

 Prediger/Predigerin zu sein ist die Sendung aller, die zum Orden des hl. Dominikus gehören. Die „Predigt“ war die Grundidee seiner Ordensgründung; und sie ist es bis heute für alle, die sich zur großen Dominikanischen Familie zählen.

Aus: „Dominikus, Gotteserfahrung und Weg in die Welt, Seite 107, Nr.75

Vladimir J. Koudelka, Walter-Verlag, Olten und Freiburg im Breisgau, 1983

 „Bruder Paul von Venedig sagte: Wenn ich mit ihm (Dominikus) auf der Reise war, sah ich ihn immer entweder beten oder predigen oder in sich gekehrt über Gott meditieren. Und ich hörte ihn oft seufzen und stöhnen. Wo immer er war, sprach er nur von Gott oder zu Gott. Dazu forderte er auch seine Brüder auf und ließ das in die Satzungen der Predigerbrüder schreiben. (Ebd. 41)“

 … beten – predigen – meditieren… – … nur von Gott oder zu Gott sprechen…;

So haben ihn viele Brüder und Schwestern erlebt und so haben viele es bezeugt.

Doch Dominikus verkündigte die Botschaft vom Heil, die Botschaft von einem barmherzigen Gott nicht allein mit Worten. Er verkörperte das Evangelium mit seinem ganzen Wesen. Er war gleichsam „Wort Gottes“, das auch lautlos vernehmbar und verstehbar war, das zu erfahren war von allen, die ihm begegneten, besonders von den „Sündern, Armen, Bedrückten“, deren Unglück ihn im Innersten bewegte, das ihn immer wieder weinen ließ.

Ein Wort Gottes sein, von Gott in unsere Welt gesprochen, – „ein Wort des Lebens“ … –    „ein Wort der Hoffnung“ … – „das ganze Kloster…ein Wort, das Gott uns schickt…“ – so und ähnlich umschreibt unser ehemaliger Ordensmeister T. Radcliffe immer wieder in seinen Briefen an den Orden unsere Sendung als Angehörige der großen Dominikanischen Familie.

 „Ein Wort der Barmherzigkeit soll ich sein“ – dazu fühle ich mich mehr und mehr herausgefordert als Dominikanerin des Instituts St. Dominikus, Speyer, auch jetzt im Alter, ja gerade jetzt im Alter und in der schwierigen Situation unserer insgesamt alternden und immer kleiner werdenden Gemeinschaft und einer so sehr veränderten Kirche, Gesellschaft und Welt.